Mechanismus einer krakenartigen Virus-Vermehrungsmaschinerie entschlüsselt
Molekularer Oktopus im Lassavirus
Hamburg / Grenoble, 2. Dezember 2021 – Forschungsgruppen des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin (BNITM), des EMBL* Grenoble und des Labors vom LIV / UHH am CSSB** haben neun Strukturen eines essentiellen Lassavirus-Proteins in verschiedenen funktionellen Zuständen untersucht. Das Protein ist für die Virusvermehrung notwendig und bietet so hervorragende Angriffspunkte für antivirale Wirkstoffe. Die Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift Nature Communications erschienen.
Das Lassavirus kommt in westafrikanischen Ländern vor und wird durch kontaminierte Lebensmittel oder Haushaltsgegenstände von Mastomys-Mäusen, den natürlichen Wirten des Virus, auf den Menschen übertragen. Obwohl viele Infektionen des Menschen mit dem Lassavirus asymptomatisch verlaufen, entwickelt etwa einer von fünf Patienten eine schwere hämorrhagische Fiebererkrankung, die lebenswichtige Organe wie Leber, Milz und Nieren beeinträchtigen kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Lassafieber als erhebliche Bedrohung der Weltgesundheit ein. Die Infektionskrankheit birgt ein hohes Epidemiepotenzial; ohne Impfungen oder verlässlich wirksame Medikamente.
„Obwohl Forschungsgruppen weltweit an einem Impfstoff arbeiten, wird ein wirksames antivirales Medikament dringend benötigt, um die Zahl der schweren und tödlichen Fälle zu verringern“, sagt Dr. Maria Rosenthal, BMBF-Nachwuchsgruppenleiterin des BNITM. Hier könne die Strukturbiologie helfen.
Vielversprechende Zielstrukturen des Lassavirus für die Wissenschaft
Die Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen des EMBL Grenoble, des BNITM und des Labors vom LIV / UHH am CSSB führte zu einer in Nature Communications veröffentlichten Arbeit. Darin werden neun Strukturen eines Enzyms, der Lassavirus-Polymerase, in verschiedenen funktionellen Zuständen beschrieben. In einer infizierten Zelle vervielfältigt dieses Enzym die genetische Information des Virus und sorgt für die Produktion von Bausteinen für neue Viren – es ist somit überlebenswichtig für das Virus.
Die Polymerase hat eine eigentümliche Architektur mit einem Kern und flexiblen äußeren Bereichen. „Wir nennen die Lassavirus-Polymerase einen 'Oktopus', weil sie so aussieht, als hätte sie Arme, die umherschwimmen. Das macht es sehr schwer, sie in einer Position zu fixieren“, erklärt Dr. Tomas Kouba von der Cusack-Gruppe und einer der drei Hauptautoren der Arbeit.
„Wenn man diesen Oktopus beobachtet, möchte man auch sehen, wie er sich verhält, wie er seine Arme bewegt, um etwas zu essen oder zu fangen“, sagt Kouba. „Allerdings sind diese Bewegungen sehr schnell, was eine Darstellung in ausreichender Schärfe schwierig macht.“
Für die Untersuchungen wandte die internationale Forschungsgruppe die moderne Technik der Kryo-Elektronenmikroskopie an: „Das Besondere an der Kryo-EM ist, dass man Millionen von Bildern des Proteins machen kann. Dann kann man sie in verschiedene Boxen sortieren: eine Box, in der der Arm nach oben geht und eine Box, in der der Arm nach unten geht“, fügt Rosenthal hinzu. „Am Ende hat man hochaufgelöste Einzelbilder der Krakenarme in verschiedenen Positionen anstelle eines verwaschenen Bildes von allen Positionen des Arms gleichzeitig. So kann man die Arme verlässlich modellieren.“
Diese Studien lieferten entscheidende Erkenntnisse über das Lassavirus, das nur vier verschiedene virale Proteine besitzt - sehr wenig im Vergleich zu anderen Viren wie Herpesviren oder SARS-CoV-2, die Dutzende von Komponenten haben. Das Lassavirus macht die geringe Anzahl seiner viralen Proteine wett, indem seine Proteine mehrere Funktionen gleichzeitig übernehmen, wie ein Schweizer Taschenmesser. Das Forschungsteam hat die Aktivität der Polymerase sichtbar gemacht und diskutiert in seiner Fachpublikation, wie die Virusvermehrung zukünftig blockiert werden kann.
Im Team zum Erfolg
Um diesen wissenschaftlichen Erfolg zu erreichen, hatte sich das BNITM mit der Gruppe von Dr. Stephen Cusack, Leiter des EMBL in Grenoble, zusammengeschlossen.
„Stephen Cusack war führend auf dem Gebiet der Influenzaforschung, und dieses Forschungsfeld war im Vergleich zum damaligen Erkenntnisstand über Bunyaviren erheblich weiter“, sagt Prof. Stephan Günther, Leiter der Abteilung Virologie am BNITM. „Wir dachten, es sei eine hervorragende Synergie, weil er bereits über viel technologisches Wissen verfügte, das wir auf die Lassa-Polymerase übertragen konnten.“
Die Lassa-Polymerase weist Eigenschaften auf, die die Bestimmung ihrer Struktur erschweren, um die sich die Nachwuchsgruppenleiterin Rosenthal seit mehreren Jahren bemüht hatte. „Um das Protein untersuchen zu können, mussten wir es zunächst in ausreichender Menge herstellen. Nach langen Versuchen mit unterschiedlichen Produktionssystemen ging ich nach Grenoble, um das von der Cusack-Gruppe für die Influenza-Polymerase angewandte System zu testen, und es hat auch für die Lassa-Polymerase hervorragend funktioniert“, so Rosenthal.
Aufbauend auf diesem Erfolg konnten gemeinsam mit Prof. Kay Grünewald vom LIV weitere Forschungsgelder für das kollaborative Exzellenzprojekt von der Leibniz-Gemeinschaft eingeworben werden.
Die Röntgenkristallographie - ein in der Strukturbiologie übliches bildgebendes Verfahren - konnte für die Lassa-Polymerase nicht verwendet werden, da sich das Protein mit seinen krakenartigen Armen zu sehr bewegte. Die Kryo-Elektronenmikroskopie bot die Lösung, da sie Einzelaufnahmen des Proteins in verschiedenen Funktionszuständen ermöglicht.
„Wir wendeten auf Lassa die Techniken an, die Kouba und Joanna Wandzik, eine ehemalige EMBL-Doktorandin, entwickelt hatten, um die aktive Influenza-Polymerase darzustellen“, erklärt Cusack. „Wir nutzten Kryo-EM-Einrichtungen sowohl in Grenoble als auch am CSSB, dem Zentrum für Strukturelle Systembiologie.“
Ihre Erkenntnisse zum Aufbau der Lassa-Polymerase ergänzten die Forschenden durch weitere Experimente zur Regulation der Enzymfunktion und zur Bedeutung einzelner Bestandteile des Enzyms. „Nur durch die kombinierte Expertise aller Partner war es möglich, dieses komplexe Enzym darzustellen und zu verstehen“, betont Rosenthal.
Moderne Infektionsforschung – global, präventiv und nachhaltig handeln
Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit werden auch andere segmentierte Negativstrang-RNA-Viren untersucht, die auf der Prioritätenliste der WHO stehen. Dazu gehören neben dem Lassavirus auch Erreger bestimmter durch Insekten übertragener Viruskrankheiten, deren geografische Ausbreitung durch den Klimawandel beeinflusst werden könnte.
Früher waren diese Viren vor allem in tropischen Gebieten beheimatet, heute dehnen sie ihr Verbreitungsgebiet aus. Dies gilt bereits für das von Zecken übertragene Virus des hämorrhagischen Krim-Kongo-Fiebers, das sich bis nach Südeuropa ausgebreitet hat, oder für das von Mücken übertragene Rift-Valley-Fieber, bei dem eine weitere Ausbreitung zu erwarten ist.
Obwohl sich diese Viren in vielerlei Hinsicht deutlich unterscheiden, sind ihre Polymerasen eng miteinander verwandt, und die Identifizierung von Ähnlichkeiten zwischen ihnen könnte dazu beitragen, ein Breitspektrum-Virostatikum zu entwickeln, das gegen alle diese Viren wirkt.
„Die Strukturbiologie ist wichtig, um zu verstehen, womit wir es zu tun haben“, sagt Rosenthal. Denn wie könne man einen Kampf gewinnen, wenn man nicht wirklich wisse, gegen wen man kämpft? Mit dem Wissen, wie diese Viren genau funktionieren, könne die Wissenschaft mehr Ideen entwickeln, wie die Menschen diese Viren nachhaltig, global und koordiniert bekämpfen können.
* European Molecular Biology Laboratory
** Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie (LIV) / Universität Hamburg (UHH) mit Laboren am Centre for Structural Systems Biology (CSSB)
English version on EMBL-Website
https://www.embl.org/news/science/wrangling-an-octopus-like-viral-replication-machine/
Originalpublikation
Kouba T., Vogel D., Thorkelsson S.R, et al.; Conformational changes in Lassa virus L protein associated with promoted binding and RNA synthesis activity, Nature Communications, 2 December 2021;
DOI 10.1038/s41467-021-27305
Hintergrundinformationen
Fokus auf der viralen Polymerase
Um den komplizierten Mechanismus der Virusvermehrung zu verstehen, konzentriert sich die Strukturbiologie auf eine Schlüsselkomponente: die virale Polymerase. In einer infizierten Zelle sorgt dieses Enzym dafür, dass neue Virusbausteine entstehen und vervielfältigt die genetische Information des Virus. Die Genomkopien werden dann mit den Virusbausteinen in neue „Virionen“ verpackt, die die Zelle verlassen und einen neuen Wirt infizieren können. Die Bestimmung der Polymerasestruktur hilft der Wissenschaft zu verstehen, wie sich ein Virus vermehrt. Und diese Information wiederum gibt den Forschenden wichtige Hinweise für die Entwicklung von Medikamenten, die die Infektion stoppen können.
Die Forschungsgruppe um Dr. Stephen Cusack, Leiter des EMBL Grenoble, konzentriert sich auf die Polymerase verschiedener humanpathogener Viren, insbesondere aus der Gruppe der Influenzaviren. Da Influenza- und Lassaviren verwandt sind (beide sind segmentierte Negativstrang-RNA-Viren), haben Dr. Stephen Cusack, Dr. Maria Rosenthal und Prof. Stephan Günther, Abteilungsleiter am BNITM, bereits vor einigen Jahren begonnen zusammenzuarbeiten. Als weiterer Partner mit starker Expertise in der Elektronenmikroskopie kam dann Prof. Kay Grünewald vom LIV / UHH mit Laboren am CSSB dazu.
Über das BNITM
Das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) ist Deutschlands größte Einrichtung für Forschung, Versorgung und Lehre auf dem Gebiet tropentypischer und neu auftretender Infektionskrankheiten. Aktuelle Forschungsschwerpunkte bilden Malaria, hämorrhagische Fieberviren, Immunologie, Epidemiologie und Klinik tropischer Infektionen sowie die Mechanismen der Übertragung von Viren durch Stechmücken. Für den Umgang mit hochpathogenen Viren und infizierten Insekten verfügt das Institut über Laboratorien der höchsten biologischen Sicherheitsstufe (BSL4) und ein Sicherheits-Insektarium (BSL3). Das BNITM ist Nationale Referenzzentrum für den Nachweis aller tropischen Infektionserreger und WHO-Kooperationszentrum für Arboviren und hämorrhagische Fieberviren. Gemeinsam mit dem ghanaischen Gesundheitsministerium und der Universität von Kumasi betreibt es ein modernes Forschungs- und Ausbildungszentrum im westafrikanischen Regenwald, das auch externen Arbeitsgruppen zur Verfügung steht.
Über das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL)
Das EMBL ist Europas Vorzeigelabor für Biowissenschaften. Es wurde 1974 als zwischenstaatliche Organisation gegründet und wird von 27 Mitgliedsstaaten, 2 angehenden Mitgliedsstaaten und einem assoziierten Mitgliedsstaat unterstützt.
Das EMBL betreibt Grundlagenforschung in der Molekularbiologie und erforscht die Geschichte des Lebens. Das Institut bietet Dienstleistungen für die wissenschaftliche Gemeinschaft an, bildet zukünftige Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus und bemüht sich um die Integration der Biowissenschaften in ganz Europa.
Das EMBL ist international, innovativ und interdisziplinär. Seine mehr als 1.800 Mitarbeitenden aus über 80 Ländern arbeiten an sechs Standorten in Barcelona (Spanien), Grenoble (Frankreich), Hamburg (Deutschland), Heidelberg (Deutschland), Hinxton (Großbritannien) und Rom (Italien). EMBL-Wissenschaftler:innen arbeiten in unabhängigen Gruppen, betreiben Forschung und bieten Dienstleistungen in allen Bereichen der Molekularbiologie an.
Die Forschung am EMBL treibt die Entwicklung neuer Technologien und Methoden in den Lebenswissenschaften voran. Das Institut arbeitet daran, dieses Wissen zum Nutzen der Gesellschaft zu transferieren.
Über das CSSB
Infektionskrankheiten sind eine globale Bedrohung, die viele Menschenleben kosten. Der Schlüssel zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten ist ein detailliertes Verständnis der zugrunde liegenden molekularen Mechanismen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Zentrum für Strukturelle Systembiologie (CSSB) erforschen die Struktur und Funktion von Erregern und ihre Wechselwirkungen mit dem menschlichen Körper. Ziel des interdisziplinären Zentrums ist es, zur Entwicklung neuartiger Therapeutika und besserer Behandlungsmöglichkeiten bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten beizutragen.
Drei Universitäten und sieben Forschungseinrichtungen arbeiten zusammen im CSSB, um neue grundlegende Erkenntnisse in der Infektionsbiologie zu gewinnen. Zur Durchführung ihrer Forschung nutzen die CSSB- Wissenschaftler:innen die erstklassige Forschungsinfrastruktur auf dem DESY-Campus in Kombination mit hauseigenen bildgebenden Verfahren wie Kryo-Elektronenmikroskopie. Darüber hinaus bieten die vier Forschungsserviceeinrichtungen des CSSB Zugang zu modernster Technologie und Forschungsdienstleistungen.
Ansprechperson
Dr. Maria Rosenthal
Gruppenleiterin
Telefon : +49 40 285380-930
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Dr. Eleonora Schönherr
Presse- & Öffentlichkeitsarbeit
Telefon : +49 40 285380-269
E-Mail : presse@bnitm.de